Teilbereiche der Visuellen Wahrnehmung

Die aktuelle Leitlinie zu visuellen Wahrnehmungsstörungen der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlich Medizinischen Fachgesellschaften) beschreibt unterschiedliche Perspektiven auf visuelle Funktionen. Je nach Berufsgruppe gibt es unterschiedliche Klassifikationen von visuellen Leistungen. 


In Anlehnung an den derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Forschung geht man jedoch von zwei grundlegenden visuellen Wahrnehmungsbereichen aus, die sich in vielen Modellen wiederfinden. Zum einen werden visuelle Leistungen in räumlich-konstruktive Leistungen eingeteilt, zum anderen werden visuell-kognitive Fähigkeiten beschrieben. 


Auf Grund der hohen Praxisrelevanz und weiten Verbreitung, gerade auch innerhalb der Ergotherapie, werden nachfolgend die derzeit gültigen visuellen Funktionen in Anlehnung an das Konzept von Marianne Frostig vorgestellt, welches seit den 1960er Jahren weiterentwickelt und überarbeitet wird.  


Die Beschreibung der aktuellen visuellen Teilleistungen sind dabei aus dem FEW-3 (Frostig Entwicklungstest zur visuellen Wahrnehmung - Version 3) (Büttner et al. 2021). 

 

Auge Hand Koordination

Die Auge - Hand Koordination ist die Fähigkeit, Bewegungen des Körpers oder Bewegungen von Körperteilen (z.B. Hand) mit dem Sehen zu koordinieren. Wenn ein Sehender nach etwas greift, werden seine Hände durch seinen Sehsinn geleitet (Lichtenauer et al. 2011).

Die komplikationslose Durchführung beinahe jeder Handlungsfolge hängt von einer ungestörten Koordination von Augen und Motorik ab.

Büttner et al. beschreiben dazu: "Die Auge-Hand Koordination erfasst die Fähigkeit, innerhalb eng umgrenzter, schmaler Segmente exakte, gerade oder kurvige Linien zu zeichnen." (Büttner et al. 2021).  


Abzeichnen

Laut Manual des FEW – 3 stellt das Abzeichnen einer Figur mit die gebräuchlichste Methode zur Testung der visuellen Wahrnehmungsfertigkeiten dar. Dabei können Informationen über die allgemeine Reife, Hirnfunktionsstörungen und feinmotorische Fähigkeiten gewonnen werden. Ebenso ist die visuelle Repräsentation von Objekten und deren Umsetzung ersichtlich.

Büttner et al. beschreiben das Abzeichnen folgendermaßen: "Erfasst die Fähigkeit, die Eigenschaften einer visuellen Vorlage zu erkennen und die Darstellung der Vorlage abzuzeichnen." (Büttner et al. 2021). 

 

Figur – Grund – Wahrnehmung

Die Figur – Grund – Wahrnehmung (FGW) ist die Fähigkeit, versteckte und sich überkreuzende Figuren zu erkennen und misst dabei eine Unterscheidungsfähigkeit auf hohem kognitiven Niveau. Das Kind lernt durch Übungen in diesem Bereich, sich auf wichtige Stimuli zu konzentrieren, durch Unterscheiden von Details diese als Figur zu sehen und sie von Ihrem Hintergrund abzuheben. Unwichtige Details müssen dabei ausgeblendet werden (Lichtenauer et al. 2011).

Büttner et al benennen die FGW folgendermaßen: "Erfasst die Fähigkeit, Figuren zu erkennen und wahrzunehmen, selbst wenn sie in einem verwirrenden, komplexen Hintergrund verborgen sind." (Büttner et al. 2021). 

 

Gestaltschließen

Hier müssen bekannte Objekte auch dann als solche erkannt werden, wenn es nur teilweise, bruchstückhaft oder gekürzt dargeboten wird. Dies ist vor allem beim Erlesen von Buchstaben eine wichtige Eigenschaft, aber auch beim Erkennen von Alltagsobjekten die nur teilweise oder bruckstückhaft zu sehen sind (frei nach Büttner et al. 2021).

Im Manual des FEW-3 heißt es dazu: "Gestaltschließen erfasst die Fähigkeit, die Gestalt einer Figur zu erkennen, wenn sie nur unvollständig gezeichnet ist." (Büttner et al. 2021). 

 

Formkonstanz

Aufgrund der Formkonstanz sind wir im Stande, bestimmte Eigenschaften eines Gegenstandes unter verschiedenen Blickwinkeln trotz unterschiedlichen Sinneseindruck im Auge verändert wahrzunehmen. Unabhängig von gewissen Merkmalen (Größe, Position, Struktur, Farben, Schattierungen) kann die ursprüngliche Form wiedererkannt werden. Sie ist eine wichtige Voraussetzung, um beispielsweise geometrische Formen unabhängig von Größe, Farbe oder Lage zu erkennen und später Buchstaben, auch wenn sie in einem anderen Wort vorkommen oder in einer anderen Schrift geschrieben sind (Lichtenauer et al. 2011).


Der FEW-3 beschreibt dazu folgendes: "Formkonstanz erfasst die Fähigkeit, zwei Figuren (z.B. zwei Quadrate) als ähnlich zueinander zu erkennen, auch wenn sie sich in einem oder in mehreren Merkmalen unterscheiden (z.B. Größe, Positionierung, Schattierung) (Büttner et al. 2021).

 

 

Literatur:

Lichtenauer N., Reif M., Orichel M., Schramm E., Starnecker B., Wagenhuber U., Borck L. (2011):  in Fördern – Heilen – Stärken, Kinder und Jugendmedizin in der Inn – Salzach – Region, Kapitel 21. Ergotherapie – Eine Information für Patienten und Ihre Eltern, Gebr. Geiselberger GmbH Druck & Verlag, Altötting

Büttner G., Dacheneder W., Müller C., Schneider W., Hasselhorn M. (2021): Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung 3 – Manual, Hogrefe Verlag, Göttingen